Wenn Jugendhilfemaßnahmen immer wieder scheitern und Kinder, Jugendliche sowie ihre Familien in einem Kreislauf des Scheiterns gefangen sind, verlieren sie oft den Glauben an positive Veränderungen. Besonders betroffen sind dabei jene Kinder und Jugendlichen, die als schwer integrierbar gelten und deren Bedürfnisse in den bisherigen Hilfeangeboten nicht erfüllt werden konnten. Für diese als „Systemsprenger*innen“ oder Hoch-Risiko-Klientel bezeichneten Fälle braucht es individuelle, maßgeschneiderte Hilfemaßnahmen.
Hier setzt die Individuelle Sozialpädagogische Einzelfallhilfe (ISE) an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, passgenaue Lösungen für Jugendliche zu entwickeln, die von den gängigen Hilfemaßnahmen nicht erreicht werden können.
Was bedeutet „Individuelle Sozialpädagogische Einzelfallhilfe“ (ISE)?
Individuelle Sozialpädagogische Einzelfallhilfe (ISE) bietet eine hochflexible, auf den Willen und die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmte Unterstützung.
Ziel ist es, maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln, die sich an den jeweiligen Lebenslagen der Jugendlichen orientieren. Dies bedeutet, dass das Hilfesetting sowohl flexibel als auch stabil sein muss, um den jungen Menschen eine konstante Bezugsperson und gleichzeitig die notwendige Anpassungsfähigkeit zu bieten.
ISE setzt auf eine enge Zusammenarbeit mit den Jugendlichen und ihren Familien. Das Hilfesetting wird dabei nicht von vornherein festgelegt, sondern im Verlauf der Maßnahme immer wieder angepasst. So kann auf Veränderungen in der Lebenssituation der Jugendlichen flexibel reagiert werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt von ISE ist die Beziehungsarbeit. Durch eine kontinuierliche Betreuung und den Aufbau von Vertrauen können die Jugendlichen lernen, wieder an sich und ihre Fähigkeiten zu glauben.
Praxisbeispiel J.K.
Ein Beispiel für die Wirksamkeit von ISE ist der Fall von J.K., einer 14-jährigen Jugendlichen aus Rosenheim. J.K. hatte bereits zehn Einrichtungen der stationären Jugendhilfe durchlaufen und war zuletzt in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht. Die bisherigen Maßnahmen konnten ihr jedoch nicht die nötige Unterstützung bieten.
Der Anfang: Flexibilität und Vertrauen aufbauen
Um eine passende Lösung für J.K. zu finden, wurde sie in einem intensiv betreuten Appartement des örtlichen Kinderheims untergebracht, um den Übergang zu einem betreuten Wohnen außerhalb des Heims zu erleichtern. Ein Team aus fünf Fachkräften stellte die Rund-um-die-Uhr-Betreuung sicher. J.K. schlug selbst vor, die Betreuungsintensität flexibel zu gestalten, wobei ihre Mitwirkung Voraussetzung war. Die Betreuung sollte schrittweise reduziert werden, solange ein Mindestmaß an Unterstützung gewährleistet blieb.
Zu Beginn mussten die Betreuer das Vertrauen von J.K. gewinnen. Sie nahm Termine nicht wahr und verweigerte den Kontakt. Durch konsequente Präsenz und Flexibilität gelang es jedoch, eine stabile Beziehung aufzubauen. Die Betreuer waren bereit, auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten für J.K. da zu sein, oft nach 22 Uhr oder vor 6 Uhr morgens. Dieses Engagement zeigt, wie wichtig Flexibilität und Durchhaltevermögen in solchen Fällen sind.
Die Herausforderungen: Flexibles Team und hohe Einsatzbereitschaft
Die größte Herausforderung bestand darin, Mitarbeiter*innen zu finden, die nicht nur die fachliche Kompetenz, sondern auch die persönliche Motivation und Bereitschaft mitbrachten, zu ungewöhnlichen Zeiten zu arbeiten und ihr Privatleben flexibel zu gestalten.
Das Team bestand aus fünf Fachkräften, die 2,7 Vollzeitstellen abdeckten. Die Fachkräfte mussten rund um die Uhr für J.K. da sein und untereinander eine starke Teamkohäsion entwickeln. Insbesondere in emotional schwierigen Situationen mussten sie sich gegenseitig unterstützen und entlasten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Bereitschaft, die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben zu lockern. Die Teammitglieder waren auch außerhalb ihrer offiziellen Dienstzeiten füreinander erreichbar und bereit, kurzfristig einzuspringen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin emotional überfordert war. Dieses Maß an Flexibilität und gegenseitiger Unterstützung war entscheidend für den Erfolg der Maßnahme.
Voraussetzungen für erfolgreiche ISE-Maßnahmen
Für den Erfolg von ISE-Maßnahmen sind bestimmte Voraussetzungen notwendig:
- Motivation und Flexibilität: Betreuer*innen müssen bereit sein, mehr zu leisten als verlangt wird, und in schwierigen Zeiten durchzuhalten.
- Teamarbeit: Ein starkes Teamgefühl und gegenseitige Unterstützung sind essenziell.
- Strukturelle Rahmenbedingungen: Ein Finanzierungssystem, das der Sozialarbeit und nicht der Administration zugutekommt, sowie ein starkes Netzwerk zur Unterstützung sind entscheidend.
ISE-Maßnahmen erfordern ein hohes Maß an Gestaltungsfreiheit. Das Team muss selbstständig und flexibel auf aktuelle Situationen reagieren können, was ein starkes Engagement und entsprechende strukturelle Unterstützung erfordert. Dazu gehört ein Finanzierungssystem, das individuelle Lösungen ermöglicht, sowie eine Trägerlogik, die den Fokus auf die Bedürfnisse der Adressat*innen legt.
Ein starkes Netzwerk aus sozialen Diensten ist ebenfalls unerlässlich. Die Zusammenarbeit mit Schulen, Ausbildungsbetrieben, Sportvereinen und anderen relevanten Institutionen ist entscheidend, um die Sozialisationsprozesse der Jugendlichen zu unterstützen. Regelmäßige externe Supervisionen helfen, das Team vor Überlastungen zu schützen und die Qualität der Betreuung sicherzustellen.
Maßgeschneiderte Lösungen für Systemsprenger*innen
Individuelle Hilfemaßnahmen wie ISE sind effektiv, weil sie in enger Zusammenarbeit mit den Jugendlichen entwickelt und durchgeführt werden. Das Beispiel von J.K. zeigt, dass maßgeschneiderte Unterstützung nicht nur Hilfe bietet, sondern diese auch effektiv macht. J.K. konnte sich dem Team anvertrauen und nach einer schwierigen Anfangszeit die Hilfe annehmen. Heute befindet sie sich in einer Ausbildung und strebt an, die Jugendhilfe zu verlassen.
Die Bedeutung von Flexibilität und individueller Betreuung
Die Erfahrung mit J.K. zeigt deutlich, wie wichtig es ist, dass Hilfemaßnahmen flexibel und individuell auf die Bedürfnisse der Jugendlichen abgestimmt sind. Standardisierte Lösungen können den komplexen Lebenslagen und den spezifischen Bedürfnissen von Systemsprenger*innen nicht gerecht werden.
Dabei spielt die Beziehungskontinuität eine zentrale Rolle. Jugendliche, die in ihrem Leben viele Brüche und Enttäuschungen erfahren haben, brauchen verlässliche Bezugspersonen. Jugendlichen können dann lernen, wieder an sich und ihre Fähigkeiten zu glauben. Dies erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und Engagement seitens der Fachkräfte.
Der Weg in die Selbstständigkeit: Langfristige Unterstützung
Das langfristige Ziel von ISE-Maßnahmen ist es, die Jugendlichen zu befähigen, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies erfordert nicht nur eine intensive Betreuung während der Maßnahme, sondern auch eine nachhaltige Unterstützung auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Die Jugendlichen sollen lernen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und ihre eigenen Ziele zu verfolgen.
Im Fall von J.K. war dies ein langer und schwieriger Prozess. Doch durch die intensive Betreuung und die individuell abgestimmte Unterstützung konnte sie schließlich Vertrauen fassen und ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln. Heute befindet sie sich in einer Ausbildung und strebt an, die Jugendhilfe eigenständig zu verlassen. Dies zeigt, dass individuelle Hilfemaßnahmen nicht nur kurzfristige Unterstützung bieten, sondern auch langfristige Perspektiven eröffnen können.
Fazit: Individuelle Sozialpädagogische Einzelfallhilfe als Schlüssel zum Erfolg
Die individuelle Sozialpädagogische Einzelfallhilfe (ISE) bietet eine wichtige und wirksame Unterstützung für Jugendliche, die mit Hilfemaßnahmen nicht erreicht werden. Durch flexible und maßgeschneiderte Lösungen können die individuellen Bedürfnisse und Lebenslagen der Jugendlichen berücksichtigt werden. Die Erfahrung mit J.K. zeigt, dass eine solche Unterstützung nicht nur kurzfristige Erfolge erzielen kann, sondern auch langfristige Perspektiven eröffnet.
Durch eine enge Zusammenarbeit mit den Jugendlichen und ihren Familien, eine kontinuierliche Betreuung und den Aufbau von Vertrauen können positive Veränderungen bewirkt werden. ISE-Maßnahmen tragen dazu bei, dass auch schwer integrierbare Jugendliche (sogenannte Systemsprenger*innen) eine Chance auf eine positive Zukunft haben. Sie sind effektiver als standardisierte Hilfen, weil sie mit den Jugendlichen entwickelt werden und daher nur so viel leisten, wie sie auch nutzen können.
Bianca Tancou, Bereichsleitung ISE, Startklar Soziale Arbeit Rosenheim